Wirtschaft

Deutschland braucht einen Infrastrukturpakt 2030

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Bund und Länder müssen wirtschaftlich schwache Regionen viel stärker fördern. Das fordert der Ex-Wirtschaftsminister.

Damit die Wirtschaft läuft: Ein Umschlagterminal in Frankfurt am Main.

„It’s the economy, stupid!“ Dieser Slogan, einst von einem Wahlkampfberater Bill Clintons kreiert und von letzterem in den Mittelpunkt seines ersten erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampfes 1992 gerückt, hat nichts von seiner weltweiten Gültigkeit verloren, auch wenn er später durch inflationären Gebrauch an politischer Durchschlagskraft einbüßte.

Wer die Wirtschaftsgeschichte Deutschlands seit Gründung der Weimarer Republik und des Reichswirtschaftsministeriums am 21. März 1919 betrachtet, der wird kaum Zweifel daran haben, dass die „Wirtschaft unser Schicksal (ist)“, so das Diktum des 1922 von Rechtsextremisten ermordeten liberalen Außenministers Walter Rathenau.

Es war der sozialdemokratische Bundeskanzler Helmut Schmidt – kurzzeitig für 161 Tage auch Wirtschaftsminister – , der diesen Satz Rathenaus zur Leitlinie seiner Kanzlerschaft erhob. Diese längst zur Binse gewordene Weisheit wird erst spannend, wenn man die Frage stellt, wer oder was „die Wirtschaft“ eigentlich ist?

Nicht erst seitdem sich der Begriff „soziale Marktwirtschaft“ für die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik durchgesetzt hat und die „Sozialpartnerschaft“ die gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern abbilden sollte, umfasste „die Wirtschaft“ wesentlich mehr als die Interessen von Unternehmen oder ihren Eigentümern. Dieses Verständnis prägte bereits den ersten Wirtschaftsminister Deutschlands, den Sozialdemokraten Rudolf Wissel.


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Sein Engagement half ganz wesentlich beim Zustandekommen des sogenannten „Stinnes-Legien-Abkommens“ vom 15. November 1918, mit dem die Gewerkschaften von den Arbeitgebern erstmals in Deutschland als die „berufenen Vertreter der Arbeiterschaft“ anerkannt wurden. Dieses Abkommen legte den Grundstein für die Tarifvertragsfreiheit, die später im Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes als „Koalitionsfreiheit“ ein Grundrecht unserer Verfassung ist.

Mehr als ein Lobbyministerium

Erfolgreich waren die Wirtschaftsminister Deutschlands, wenn sie das Wirtschaftsministerium als Ansprechpartner für die Sozialpartner verstanden – also von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Mit diesem Anspruch konnte es gestalterisch als ernstzunehmender Spieler auf dem Feld der Politik auftreten. Wo es als bloßer verlängerter Arm der Interessen von Unternehmen oder Arbeitgebern gesehen wurde, verlor es schnell an Bedeutung.

Ein Wirtschaftsministerium mit dem Credo „Wirtschaft wird in der Wirtschaft gemacht“ wurde als bloßes Lobbyministerium wahrgenommen, dem der Rest der Politik entweder zu sozial oder zu ökologisch war. Dann wurde aus einem Wirtschaftsministerium mit Gestaltungsanspruch bloß ein Ideologieministerium.

Der ehemalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD).

Keine demokratisch gewählte Regierung irgendeines Landes kann ohne funktionierende Wirtschaft lange politisch überleben. Die schreckliche Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen: Ohne die krisenhafte wirtschaftliche Zuspitzung wäre das Ende von Weimar gewiss nicht so schnell gekommen.

Die Fixsterne waren Ludwig Erhard und Karl Schiller

Viele haben nach 1945 daran mitgewirkt, den Wiederaufbau Deutschlands nicht nur materiell zu bewältigen, sondern auch institutionell aus dem Scheitern der Weimarer Republik zu lernen. Auch in der Wirtschaftspolitik. Allen voran die Ökonomen der Freiburger Schule.

Entscheidend aber war im Nachkriegsdeutschland der ersten zwei Jahrzehnte das Wirken von zwei Wirtschaftsministern, von dem der eine die 1950er Jahre als Fixstern dominierte und der andere die 1960er Jahre: Ludwig Erhard und Karl Schiller. Das Versprechen Ludwig Erhards, „Wohlstand für alle“ zu schaffen, passte in eine Zeit, die von politischer und sozialpsychologischer Verdrängung der westdeutschen Nachkriegsdemokratie gekennzeichnet war.

Als in den 60er Jahren erstmals Krisenerscheinungen diesen gefühlten „Traum immerwährender Prosperität“ (so der Titel eines Buches von Burkhart Lutz 1989) erschütterten, betrat Karl Schiller die wirtschaftspolitische Bühne und brachte den Deutschen die Wirtschaftspolitik medial als kunstvoll verpacktes Entertainment in die Wohnzimmer: Er schnürte öffentlichkeitswirksam Konjunkturpakete und schuf mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz 1967 und dem darin befindlichen „Magischen Viereck“ fast Ikonographen der modernen Konjunktur- und Wirtschaftspolitik. Nie stand Wirtschaftspolitik so hoch im politischen Kurs.

Wohlstand für Alle. Das war das Versprechen Ludwig Erhards.

Inzwischen wissen wir, wie gut unser Land seit Bestehen der Bundesrepublik mit den Möglichkeiten der sozialen Marktwirtschaft umzugehen gelernt hat. Dass uns dies aber nicht fehlerfrei gelungen ist, spüren wir an den politischen Verschiebungen im Parteiensystem und an den diese tektonischen Verschiebungen unter anderem auslösenden gesellschaftlichen Verwerfungen in vielen, vor allem ostdeutschen Teilen des Landes.

Man muss nicht eigens eine Kommission damit beauftragen, um festzustellen, dass die Vereinigung Deutschlands zu Bedingungen des wirtschaftlich starken Westens vonstatten ging und zu vermeidbaren Ungerechtigkeiten geführt hat. Was aber jetzt Not tut, ist, sich viel stärker um alle wirtschaftlich und strukturell schwächeren Regionen in Deutschland durch mehr Investitionen in die verkehrliche, telekommunikative, wirtschaftliche, soziale, administrative und kulturelle Infrastruktur zu kümmern – und zwar seitens des Bundes und aller Länder. Ein Infrastrukturpakt 2030 muss her!

Der soziale Aufstieg der Arbeiter

Dass die Wirtschaftspolitik allein diese Mammutaufgabe nicht wird stemmen können, dürfte allen Beteiligten klar sein. Umso wichtiger ist es, dass wir keine Zeit verlieren, diesen Prozess jetzt schnell ressortübergreifend in Gang zu setzen, bevor rechtsextremistische und nationalistische Parteien und Gruppierungen weiter das Feuer anfachen. Die demokratischen Kräfte stehen gerade in diesem Jahr vor ihrer großen Bewährungsprobe.

Auch wenn das Ideal der sozialen Marktwirtschaft der freie Leistungswettbewerb auf offenen und fair geregelten Märkten gerade im Zeitalter der Digitalisierung nicht mehr der Realität entspricht, ist das Modell von sozialer Teilhabe und Prosperität noch immer konkurrenzlos: weil ihre Elemente von Sozialpartnerschaft, Tarifautonomie und geregelten Konfliktaushandlungsmodi dem sozialen Frieden und dem Zusammenhalt in unserem Land einen unschätzbaren Dienst erwiesen haben und täglich erweisen, weil sie zum Beispiel in der Vergangenheit den sozialen Aufstieg von einfachen Arbeitern ermöglicht haben. Dass dies indes heute für viele Geringverdiener nicht mehr möglich ist – das ist die eigentliche Bewährungsprobe der sozialen Marktwirtschaft heute.

Hier ist auch die Wirtschaftspolitik gefordert und damit der Wirtschaftsminister. Max Webers großes Standardwerk aus dem Jahr 1921/22 trägt nicht ohne Grund den Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“. Und die erfolgreichsten Zeiten und Wahlerfolge meiner Partei ereigneten sich stets dann, wenn es ihr gelang – wie zuletzt 1998 – „Innovation und Gerechtigkeit“ zusammenzudenken, programmatisch entsprechend zu unterlegen und praktisch in der Politik gleichgewichtig zu behandeln.

Wenn man sich aber erkennbar aus der Sphäre der Wirtschaft und ihrer Gestaltung zurückzieht und nur noch die Folgen wirtschaftlichen Handelns in der Sozialpolitik zu regulieren beabsichtigt, beginnt man an der „end of the pipe“ – mit entsprechender Gestaltungslimitierung und Verlust an Wählerattraktion.

Wir brauchen europäische Champions

Die Neuausrichtung auf eine Welt, in der sich ziemlich alles ändert, was bislang als sicher galt, ist eine der zentralen Aufgaben deutscher Wirtschaftspolitik – besser: europäischer Wirtschaftspolitik. Deutschland muss Motor dieser Neuausrichtung sein – mit Blick auf die Digitalisierung und Plattformen für künstliche Intelligenz oder Mobilität ebenso wie auf globale Märkte, für die wir europäische Champions brauchen.

Ja, der deutsche (und europäische) Mittelstand bleibt Rückgrat unserer wirtschaftlichen Entwicklung. Aber ohne Systemführerschaft europäischer Unternehmen – von der Automobilindustrie, über Schienen- und Luftverkehr, bis zur Biotechnologie, der Pharmazie oder der Chemie – wird auch der Mittelstand im internationalen Wettbewerb weit schlechtere Chancen haben.

Es gibt kein „entweder-oder“ zwischen Mittelstand und großen europäischen Champions, sondern die Kombination hat uns stark gemacht. Industriepolitik war zu lange ein „Schimpfwort“ in der deutschen und europäischen Politik. Und in Europa war alles wichtiger als industrieller Erfolg. Damit muss Schluss sein.

Im Kern geht es nicht darum, besser als die Unternehmen zu wissen, wo und wie man investieren muss. Sondern um die Analyse jeder Form von Rahmenbedingungen, die international gebraucht werden, um auf den globalen Märkten Erfolg zu haben. Die USA machen uns das seit Jahrzehnten vor. Statt „Wirtschaft in der Wirtschaft“ zu machen, bündelte die Führungsnation liberaler Wirtschaftsordnungen alle Kräfte, wenn es um die Durchsetzung amerikanischer Interessen ging: von der Forschungspolitik bis zum Einsatz der enormen Kapazitäten des Verteidigungshaushaltes, von der Standardsetzung bis zur Nutzung der eigenen Währungspolitik oder der Entwicklung nicht tarifärer Handelshemmnisse, um Wettbewerber nicht auf den Markt zu lassen.

Nicht alles davon – insbesondere nicht der Hang zum Protektionismus – sollte in das Arsenal europäischer Wirtschaftspolitik hineinfinden. Das Prinzip schon: möglichst alle Kräfte für den Erfolg der eigenen deutschen und europäischen Industrie zu bündeln und sie politisch zu fördern.

An einem Jubiläumstag wie dem, an dem wir das 100-jährige Bestehen des Wirtschaftsministeriums feiern, sollten wir die Aufgaben der deutschen Wirtschaftspolitik neu justieren, um gemeinsam mit unseren Unternehmen global weiter erfolgreich zu sein. Denn im Kern haben Rathenau, Clinton und Schmidt gleichermaßen recht: Ohne prosperierende Wirtschaft wäre Deutschland in der Welt des 21. Jahrhunderts keine ernstzunehmende Größe mehr.

Sigmar Gabriel war SPD-Vorsitzender und von 2013 bis 2017 Wirtschaftsminister. Er ist Autor des Tagesspiegels.

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